Arbeitsrecht | 30.12.2021

Nach der Kündigung krank geworden, reicht die AU-Bescheinigung?

Wenn der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis kündigt, führt das regelmäßig zu nachteiligen Veränderungen im Leben des Arbeitnehmers. Nicht wenige Arbeitnehmer scheint der Erhalt der Kündigung so sehr zu destabilisieren, dass sie sich schnurstracks in ärztliche Behandlung begeben. Wird dabei die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers festgestellt und eine entsprechende Bescheinigung erteilt, muss dieser erst einmal nicht mehr zur Arbeit gehen. Sofern das Arbeitsverhältnis bereits länger als vier Wochen besteht, erhält der Arbeitnehmer nach § 3 EntgFG dennoch seinen Lohn. In manchen Fällen mögen aber auch Zweifel angebracht sein, wenn der Arbeitnehmer unmittelbar nach dem Erhalt der Kündigung krank wird. Dann sind die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und deren Beweiswert von besonderer Bedeutung.

Grundsatz: Hoher Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Es entspricht jahrzehntelanger Rechtsprechung, dass die AU-Bescheinigung einen hohen Beweiswert im arbeitsgerichtlichen Verfahren hat. Legt der Arbeitnehmer eine solche vor, muss das Arbeitsgericht zunächst einmal von einer entsprechenden Erkrankung ausgehen. Das muss im Allgemeinen auch gelten, wenn der Arbeitnehmer unmittelbar nach dem Erhalt der Kündigung krank wird. Das Bundesarbeitsgericht meint dazu:

In der Regel führt der Arbeitnehmer den Beweis der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Sinne des § 5 Absatz 1 Satz 2 EntgFG. Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Einer solchen Bescheinigung kommt ein hoher Beweiswert zu. Dies ergibt sich aus der Lebenserfahrung. Der Tatrichter kann normalerweise den Beweis, dass eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit vorliegt, als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine solche Bescheinigung vorlegt

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26. Februar 2003 - 5 AZR 112/02

Was ist mit Gefälligkeitsbescheinigungen?

Nun sind Ärzte auch nur Menschen und mancher Arbeitnehmer ein guter Schauspieler. Auch die Arbeitsgerichte können sich der Tatsache, dass manche Arbeitnehmer Bescheinigungen vorlegen, die objektiv unrichtig sind, natürlich nicht ganz verschließen. Wenn der Arbeitgeber trotz der vorgelegten AU-Bescheinigung keine Entgeltfortzahlung leisten möchte, weil er den Arbeitnehmer für arbeitsfähig hält, muss er Tatsachen vortragen, die den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern. Und das geht - auch in dem Fall, dass der Arbeitnehmer nach der Kündigung krank wird - durchaus:

Er muss wie bei jeder tatsächlichen Vermutung zunächst Tatsachen vortragen, aus denen der Richter den Schluss ziehen kann, dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert ist, weil ernsthafte Zweifel an der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit bestehen

LAG Hamm, Urteil vom 11. Juni 2008 - 18 Sa 2146/07

BAG: Ersthafte Zweifel, wenn der Arbeitnehmer am Tag der Kündigung krank wird und die AU-Bescheinigung bis zum Ende der Kündigungsfrist gilt

Das war der Fall, über den das Bundesarbeitsgericht im vergangenen September zu entscheiden hatte. Es ging um eine Eigenkündigung einer Arbeitnehmerin am 8. Februar 2019 mit Wirkung zum 22. Februar 2019. Die Arbeitnehmerin wurde am Tag der Kündigung krank, begab sich zum Arzt und erhielt eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die bis 22. Februar 2019 galt. An solch einen Zufall mochte der Arbeitgeber nicht glauben und verweigerte die Zahlung von Lohn für den fraglichen Zeitraum. Das gefiel der Arbeitnehmerin überhaupt nicht und sie zog vor das Arbeitsgericht. In den ersten beiden Instanzen gewann sie dann auch und das LAG Niedersachsen hat die Revision nicht zugelassen. Es handele sich um eine Einzelfallentscheidung auf der Grundlage höchstrichterlicher Rechtsprechung.

Doch der Arbeitgeber bewies Ausdauer und beantragte erfolgreich die nachträgliche Zulassung der Revision bei dem Bundesarbeitsgericht. Und das wiederum sieht den Beweiswert der AU-Bescheinigung durchaus erschüttert, wenn der Arbeitnehmer unmittelbar nach der Kündigung krank wird und die Krankheit genau bis zum Ende der Kündigungsfrist andauern soll.

Auf der Grundlage des festgestellten Sachverhalts ist davon auszugehen, dass der Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert ist. Aufgrund der zeitlichen Koinzidenz zwischen bescheinigter Arbeitsunfähigkeit sowie Beginn und Ende der Kündigungsfrist bestehen ernsthafte Zweifel am Bestehen der Arbeitsunfähigkeit.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 8. September 2021 - 5 AZR 149/21

Ende gut, alles gut - aber mit Glück!

Am Ende hat der Arbeitgeber nun also doch gewonnen und muss seine frühere Mitarbeiterin für die letzten beiden Wochen nicht entlohnen. Dabei hatte er jedoch etwas Glück und hat auch von einem nicht optimalen prozessualen Verhalten der Klägerin profitiert: Einerseits kündigte die Arbeitnehmerin mit Wirkung auf einen Freitag. Und aus einem unerfindlichen Grund endet die von Ärzten prognostizierte Arbeitsunfähigkeit in gefühlt 99 % der Fälle freitags. So auch hier und das war für die seitens des Gerichts hervorgehobene Koinzidenz ursächlich. Andererseits ist mit dem "Erschüttern" des Beweiswerts der AU-Bescheinigung ein Prozess nicht automatisch verloren. Der Arbeitnehmer hat dann durchaus die Möglichkeit, anderweitig seine Erkrankung nachzuweisen.

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