Verkehrsrecht | 19.04.2014

Kettenauffahrunfall: Spricht der Beweis des ersten Anscheins gegen den Auffahrenden?

Kettenauffahrunfall - Bei einem Kettenauffahrunfall spricht der sog. Beweis des ersten Anscheins für ein alleiniges Verschulden des Auffahrenden grundsätzlich nicht.

Nur wenn feststeht, dass das ihm vorausfahrende Fahrzeug des Geschädigten rechtzeitig hinter seinem Vordermann zum Stehen gekommen ist und nicht durch einen Aufprall auf das vorausfahrende Fahrzeug den Bremsweg des ihm folgenden Fahrzeugs verkürzt hat, kommt ein Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden in Betracht.

Dies hat das OLG Hamm, Urteil vom 06.02.2014 - 6 U 101/13 entschieden.

Kettenauffahrunfall - Der Fall

In dem zu entscheidenden Fall ereignete sich ein Kettenauffahrunfall, d.h. gleich mehrere Fahrzeuge fuhren einander auf.

Die Beklagte war als letzte von insgesamt drei dem Fahrzeug eines Dritten nachfolgenden Fahrzeugen auf das jeweils vorausfahrende Fahrzeug aufgefahren.

Ob die ihr vorausfahrende Ehefrau des Klägers mit dessen Fahrzeug zuvor ebenfalls auf das ihr vorausfahrende Fahrzeug aufgefahren oder durch das Fahrzeug der Beklagten aufgeschoben worden ist, konnte nicht festgestellt werden.

Der Kläger war der Auffassung, die Beklagte als Auffahrende hafte für den ihm entstandenen Schaden zu 100 %.

Denn es spreche gegen sie der sog. Beweis des ersten Anscheins dahingehend, dass sie den Unfall aufgrund Unaufmerksamkeit oder Nichteinhalten des gebotenen Sicherheitsabstands verursacht habe.

Zu Recht?

Nein – das OLG Hamm kommt bezüglich des klägerischen Heckschadens zu einer Haftungsverteilung von 50 % – 50 %.

Denn entgegen der Auffassung des Klägers sei die Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Beklagten nicht durch ein Verschulden letzterer erhöht worden.

Insbesondere spreche nicht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass die Beklagte  einen zu geringen Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Fahrzeug des Klägers eingehalten habe oder unaufmerksam gefahren sei oder zu spät reagiert habe.

Bei einem Kettenauffahrunfall bestünden im Vergleich zu einem normalen Auffahrunfall nämlich Besonderheiten.

1.

Der in der Regel gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis für sein Verschulden sei bei einem Kettenauffahrunfall wie dem vorliegenden nicht auf die innerhalb der Kette befindlichen Kraftfahrer anwendbar.

Denn häufig sei nicht feststellbar, wer auf wen aufgefahren ist und wer wen auf das vorausfahrende Fahrzeug aufgeschoben habe.

Das gelte insbesondere für die Verursachung des Frontschadens am Fahrzeug des Klägers, weil zwischen den Parteien streitig sei und weder durch das vom Landgericht eingeholte Sachverständigengutachten, noch durch Zeugenaussagen geklärt werden konnte, ob die Ehefrau des Klägers vor dem Aufprall der Beklagten auf das ihr vorausfahrende Klägerfahrzeug aufgefahren sei oder ob sie vorher habe rechtzeitig bremsen können und sodann vom Fahrzeug der Beklagten auf das vorausfahrende Fahrzeug aufgeschoben worden sei.

2.

Auch hinsichtlich der streitigen Verursachung des Heckschadens am Fahrzeug des Klägers kämen die Grundsätze des Anscheinsbeweis nicht zur Anwendung.

a.

Zwar werde in der Rechtsprechung überwiegend vertreten, dass der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis für ein schuldhaftes Verhalten jedenfalls auf den letzten in der Kette der Unfallfahrzeuge auffahrenden Fahrer anwendbar sei, soweit es um die Verursachung des Heckschadens gehe.

Diese Auffassung werde damit begründet, dass bei ihm regelmäßig feststehe, dass er nicht aufgeschoben worden sei, mit der Folge, dass es sich für ihn um einen gewöhnlichen Auffahrunfall handle.

Soweit der Auffahrende behaupte, der Fahrer des vorausfahrenden Fahrzeugs habe den Bremsweg unerwartet verkürzt, indem er selbst auf den Vordermann aufgefahren sei, obliege es ihm, die sich aus dem Beweis des ersten Anscheins begründete richterliche Überzeugung zu erschüttern.

b.

Bei dieser Argumentation werde jedoch übersehen, dass die Anwendung des Anscheinsbeweises bei Verkehrsunfällen voraussetze, dass es sich um einen typischen Geschehensablauf handle, bei dem sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdränge, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt habe.

Es müsse sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch sei.

Dabei sei grundsätzlich Zurückhaltung geboten, weil es der Anscheinsbeweis erlaube, aufgrund allgemeiner Erfahrungssätze auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten zu schließen, ohne dass im konkreten Fall die Ursache, bzw. das Verschulden festgestellt werden müsse.

Deshalb reiche alleine der Auffahrunfall als „Kerngeschehen“ als Grundlage eines Anscheinsbeweises nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt seien, die als Besonderheit gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprächen.

Dies sei  bei einem Kettenauffahrunfall der Fall.

c.

Unter Anwendung dieser Grundsätze komme zur Überzeugung des Senats ein Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Verursachung des Heckaufpralls durch den letzten in der Kette auffahrenden Verkehrsteilnehmer nur dann in Betracht, wenn feststehe, dass das vorausfahrende Fahrzeug rechtzeitig hinter seinem Vordermann zum Stehen gekommen sei.

Könne eine solche Feststellung nicht getroffen werden, fehle es an einem typischen Geschehensablauf, der ein Verschulden des zuletzt in der Kette auffahrenden Verkehrsteilnehmers aufdränge, weil dann die Möglichkeit bestehe, dass der Vorausfahrende für den auffahrenden Verkehrsteilnehmer unvorhersehbar und ohne Ausschöpfung des Anhalteweges „ruckartig“ zum Stehen gekommen sei, indem er seinerseits auf seinen Vordermann aufgefahren sei und deswegen den Anhalteweg für den ihm nachfolgenden Verkehrsteilnehmer unzumutbar verkürzt habe.

3.

Da somit im Ergebnis die von den am streitgegenständlichen Unfallgeschehen beteiligten Fahrzeugen ausgehende Betriebsgefahr jeweils gleich hoch zu bewerten sei und sonstige unstreitige oder bewiesene Umstände, die eine Erhöhung der Betriebsgefahr auf der einen oder anderen Seite rechtfertigen könnten, nicht vorlägen, erscheine es angemessen, eine Haftungsverteilung zu gleichen Teilen vorzunehmen.

Die Beklagte hafte danach (lediglich)  in Höhe von 50% für den von den von ihr verursachten Heckschaden am Fahrzeug des Klägers.

Fazit:

Eine lesenwerte und richtige Entscheidung des OLG Hamm.

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Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht Ralf Schulze Steinen.

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