Verkehrsrecht | 19.03.2014

Auffahrunfall – Haftet der Auffahrende immer voll?

Bei einem Auffahrunfall gilt zwar der Grundsatz, dass der Auffahrende voll haftet. Denn entweder hat er den nötigen Sicherheitsabstand nicht eingehalten, seine Geschwindigkeit nicht der konkreten Verkehrssituation angepasst oder war einfach unaufmerksam. Hierfür besteht ein sog. Anscheinsbeweis. In Ausnahmefällen kommt aber eine Mithaftung oder sogar Alleinhaftung des Vorausfahrenden in Betracht. Dies ist insbesondere bei einem grundlosen Abbremsen der Fall.

Dies hat das OLG Frankfurt, Urteil vom 02.03.2006, Az. 3 U 220/05, entschieden.

In dem zu entscheidenden Fall begehrte der Kläger von der Beklagten Schadensersatz aus einem Auffahrunfall.

Der Kläger befuhr die mittlere Fahrspur einer Straße in Richtung Innenstadt, die Beklagte fuhr in der gleichen Richtung hinter ihm. In gemeinsamer Fahrtrichtung gesehen befand sich eine Ampel. Da die Ampel rot zeigte, hielten Kläger und – dahinter – die Beklagte an. Nachdem die Ampel auf grün umschaltete, fuhren sowohl der Kläger, als auch die Beklagte wieder an, wobei der Kläger kurze Zeit später -grundlos- sein Fahrzeug wieder abbremste, weshalb es zu dem Auffahrunfall kam.

Der Kläger meinte, die Beklagte hafte als Auffahrende voll, wofür ein Anscheinsbeweis spreche.

Zu Recht?

Nein – das OLG Frankfurt gibt dem Kläger die Alleinschuld am Auffahrunfall und weist die Klage ab.

1.

Es sei zwar grundsätzlich richtig, dass bei einem Auffahrunfall in der Regel die Annahme eines Anscheinsbeweises für ein (volles) Verschulden des Auffahrenden gerechtfertigt sei.

Voraussetzung für eine Anwendung des Erfahrungssatzes, dass das Auffahren im gleichgerichteten Verkehr regelmäßig auf mangelnde Aufmerksamkeit, überhöhte Geschwindigkeit oder einen ungenügenden Sicherheitsabstand des Auffahrenden zurückzuführen sei, sei dabei das Vorliegen einer Standardsituation, in der eine allenfalls denkbare andere Ursache so unrealistisch erscheine, dass sie außer Betracht bleiben könne.

In diesen Fällen sei es dem Auffahrenden zumutbar, gegebenenfalls den Gegenbeweis für eine von ihm behauptete atypische Verursachung des Unfalls zu führen.

2.

Allerdings fehle die für die Anwendung des Anscheinsbeweises erforderliche Typizität der Unfallkonstellation, wenn ein Umstand vorliege, der als Ursache aus dem Verantwortungsbereich des Vordermanns in Betracht komme, etwa ein dem Auffahren unmittelbar vorausgegangener Spurwechsel des Vordermanns oder dessen dem Auffahren vorangegangenes, grundloses Abbremsen.

Im vorliegenden Fall sei die wesentliche – wenn auch nicht die einzige – Ursache für den Auffahrunfall ein eigenes Verschulden des Klägers gewesen:

Er sei verpflichtet gewesen, sich im Straßenverkehr so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr als nach den Umständen unvermeidbar behindert oder belästigt werde. Ohne triftigen Grund dürfe er nicht so langsam fahren, dass er den Verkehrsfluss behindere, §§ 1 Abs. 2, 3 Abs. 3 StVO.

Aus diesen Verkehrsregeln folge, dass ein Fahrer den Verkehrsfluss auch nicht dadurch behindern dürfe, dass er ohne Ankündigung und ohne für den nachfolgenden Verkehr erkennbare Ursache plötzlich abbremse, denn dadurch könne das Auffahren des durch ein derartig verkehrswidriges Fahrmanöver überraschten Hintermanns provoziert und für diesen unvermeidlich werden. Diese Regeln habe der Kläger misachtet.

In einer solchen Konstellation könne auch der grundsätzlich und häufig bei einem Auffahrunfall gerechtfertigte Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Auffahrenden nicht angewendet werden.

Gegenüber dem Verschulden des Klägers falle die mitwirkende Betriebsgefahr des Pkw der Beklagten und ein nur zu vermutendes Verschulden als Unfallursache so wenig ins Gewicht, dass beides bei der Haftungsabwägung vernachlässigt werden könne.

Die Klage sei deshalb abzuweisen.

Fazit:

Der Auffahrunfall ist ein Klassiker des zivilen Verkehrsrechts und in der Praxis häufig.

Die richtige Entscheidung des OLG Frankfurt zeigt, dass der bekannte und weit verbreitete Grundsatz „Wer auffährt, der haftet“ nicht immer richtig ist.

Vielmehr ist – so wie es das OLG Frankfurt getan hat – hiervon insbesondere dann eine Ausnahme zu machen, wenn der Vorausfahrende grundlos, d. h. ohne zwingenden Grund, abbremst. Denn dann liegt ein Verstoß gegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO vor. An einer grünen Ampel zu bremsen ist grundlos in diesem Sinne.

Ein grundloses Abbremsen wurde durch die Rechtsprechung auch dann bejaht, wenn der Vorausfahrende wegen eines die Fahrbahn querenden Kleintieres (Katze, Hase, Igel, Eichhörnchen oder Fuchs) bremst.

Die alleinige Haftung des Vorausfahrenden dürfte aber die seltene Ausnahme sein. Häufiger wird man (nur) eine anteilige Schuld des Vorausfahrenden am Auffahrunfall bejahen können, denn mit einem abrupten, starken Abbremsen muss der „Auffahrende“ in der Regel rechnen.

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Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht Ralf Schulze Steinen

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