Arbeitsrecht | 22.02.2023
Beginn des Kündigungsschutzes bei Schwangerschaft – BAG weist LAG Stuttgart zurecht
Vor etwa einem Jahr hatten wir an dieser Stelle über ein Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg berichtet. Dort hatte man mit einer jahrzehntelangen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Beginn des Kündigungsschutzes bei Schwangerschaft gebrochen. Nun hat das BAG dieses Urteil aufgehoben.
Ausgangspunkt des Streits zwischen Erfurt und Stuttgart ist § 17 Absatz 1 Satz 1 MuSchG
Die Kündigung gegenüber einer Frau ist unzulässig während ihrer Schwangerschaft ... .
Dieser auf den ersten Blick recht eindeutige Wortlaut führt in der praktischen Anwendung immer wieder zu der Frage, seit wann die Schwangerschaft tatsächlich vorgelegen hat. Hier kann es für den Beginn des Kündigungsschutzes während der Schwangerschaft schon mal auf einen einzigen Tag ankommen. Da der exakte Beginn einer Schwangerschaft selten eindeutig feststellbar ist und im Zweifel gerichtliche Erörterungen aus dem intimsten Lebensbereich der Arbeitnehmerin erforderlich macht, haben sich die Arbeitsgerichte seit 1966 mit einer Fiktion beholfen. Diese Fiktion ist in dem Leitsatz der aktuellen Entscheidung nochmals zusammengefasst:
Das Kündigungsverbot aus § 17 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 MuSchG beginnt 280 Tage vor dem voraussichtlichen Entbindungstermin.
BAG, Urteil vom 24. November 2022 - 2 AZR 11/22
Mit dieser Rechtsprechung hatte das Landesarbeitsgericht Stuttgart mit Urteil vom 1. Dezember 2021 - 4 Sa 32/21 gebrochen. Dort meinte man, dass das Bestehen einer Schwangerschaft sei bei natürlicher Empfängnis ausgehend von dem ärztlich festgestellten mutmaßlichen Entbindungstermin nicht durch eine Rückrechnung eines Zeitraums von 280 Tagen, sondern lediglich von 266 Tagen zu bestimmen. Abzustellen sei nicht auf die äußerste zeitliche Grenze für den möglichen Beginn einer Schwangerschaft (280 Tage), sondern nur auf die durchschnittliche Schwangerschaftsdauer (266 Tage).
Gegen dieses Urteil wurde Revision eingelegt und über selbige hat man jetzt in Erfurt entschieden. Dort ist man der Meinung, das LAG Baden-Württemberg habe die europarechtlichen Vorgaben nicht hinreichend berücksichtigt. Artikel 10 der Mutterschutzrichtlinie solle schließlich verhindern, dass werdende Mütter aus Gründen entlassen werden, die mit der Schwangerschaft in Verbindung stehen. Im Sinne dieses Schutzes der werdenden Mutter sei eine weite Auslegung von § 17 Absatz 1 Satz 1 MuSchG geboten.
Die Begründung des Bundesarbeitsgerichts
Der Senat verzichtet bewusst auf eine Wahrscheinlichkeitsrechnung, um zu gewährleisten, dass jede tatsächlich Schwangere den Schutz des § 17 Absatz 1 Satz 1 MuSchG in Anspruch nehmen kann. Da sich ... Fehler und Ungenauigkeiten nicht vermeiden lassen, ist es geboten, zunächst von der der Arbeitnehmerin günstigsten Berechnungsmethode auszugehen. Dabei werden zwar auch Tage einbezogen, in denen das Vorliegen einer Schwangerschaft eher unwahrscheinlich, aber eben nicht generell ausgeschlossen ist. Nur diese Betrachtungsweise erstreckt den Beginn des Kündigungsverbots auf den „frühestmöglichen Zeitpunkt des Vorliegens einer Schwangerschaft“, während die vom Berufungsgericht vertretene Auffassung, wonach die „durchschnittliche“ Dauer einer Schwangerschaft von 266 Tagen maßgeblich sein soll, in Kauf nimmt, dass Arbeitsverhältnisse von schwangeren Arbeitnehmerinnen, bei denen die Konzeption bereits zu einem vor dem 266. Tag liegenden Zeitpunkt erfolgt ist, nicht vom Kündigungsverbot erfasst würden. Das wäre mit dem von der Mutterschutzrichtlinie gewollten und nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gebotenen umfassenden Schutz von schwan-geren Arbeitnehmerinnen nicht zu vereinbaren.
Fazit zum Beginn des Kündigungsschutzes bei Schwangeren
Damit bleibt es dabei: Der Beginn des Kündigungsschutzes bei Schwangerschaft wird einfach mittels Rückwärtszählen von Tagen ermittelt. Dafür spricht selbstverständlich der effektive Schutz werdender Mütter. Aber auch die praktische Handhabung im Kündigungsschutzprozess spricht dafür. Denn die Einholung von Sachverständigengutachten zur Frage des Beginns der Schwangerschaft erscheint unangemessen. Und sie dürfte häufig auch keine exakten Ergebnisse zu Tage bringen.