Arbeitsrecht | 10.11.2021

Kündigung ohne Zustimmung des Integrationsamtes führt zu Entschädigungsanspruch nach AGG

Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg hat kürzlich ein Urteil gesprochen, das für schwerbehinderte Menschen von Bedeutung ist. Aber auch für Arbeitgeber, die schwerbehinderte Menschen beschäftigen, sollten ihm Aufmerksamkeit schenken. Ihnen drohen Entschädigungsansprüche in nicht unerheblichem Umfang, wenn sie nicht die erforderliche Sorgfalt walten lassen und eine Kündigung ohne Zustimmung des Integrationsamtes aussprechen.

Zustimmung des Integrationsamtes ist Wirksamkeitsvoraussetzung für Kündigung

Schon bei Schwierigkeiten im Arbeitsvertrag trifft den Arbeitgeber gemäß § 167 SGB IX die Pflicht, das Integrationsamt einzuschalten, um alle Möglichkeiten zu erörtern, diese Schwierigkeiten zu beseitigen. Beabsichtigt der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis mit einem schwerbehinderten Arbeitnehmer zu kündigen, so bedarf diese gemäß § 168 SGB IX der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. Eine Kündigung ohne Zustimmung des Integrationsamts ist unwirksam.

Benachteiligung schwerbehinderter Arbeitnehmer führt zu Entschädigungsansprüchen

Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz hat unter anderem zum Ziel, Benachteiligungen aus Gründen einer Behinderung zu verhindern. Gemäß § 7 Absatz 1 AGG dürfen insbesondere Arbeitnehmer aus diesem Grund nicht benachteiligt werden. Kommt es zu einem Verstoß gegen dieses Benachteiligungsverbot, so ist der Arbeitgeber verpflichtet, Schadensersatz zu leisten. Wenn dem schwerbehinderten Arbeitnehmer kein materieller Schaden entstanden ist, kann er gemäß § 15 Absatz 2 AGG eine angemessene Entschädigung verlangen. Fraglich war, was im Falle einer Kündigung ohne Zustimmung des Integrationsamtes gilt.

Der Fall: Arbeitgeber spricht Kündigung ohne Zustimmung des Integrationsamtes aus

In dem Fall, über den das LAG Baden-Württemberg im Mai dieses Jahres zu befinden hatte, ging es um einen schwerbehinderten Menschen. Er wer seit 29. Oktober 2015 als solcher mit einem Grad der Behinderung von 60 anerkannt. Dieser Umstand war dem Arbeitgeber bekannt. Dennoch hat er den Arbeitnehmer mit Schreiben vom 30. März 2020 zum 30. Juni 2020 gekündigt, ohne zuvor die Zustimmung des Integrationsamtes einzuholen. Der Arbeitnehmer erhob daraufhin zunächst Kündigungsschutzklage. Der Arbeitgeber nahm daraufhin am 17. Juni 2020 die Kündigung zurück. Zuvor hatte der Arbeitnehmer seine Klage allerdings erweitert und eine Entschädigung gemäß § 15 Absatz 2 AGG in Höhe von drei Bruttomonatsgehältern geltend gemacht. Er vertrat die Auffassung, die Kündigung ohne Beteiligung des Integrationsamtes stelle eine verbotene Benachteiligung wegen seiner Behinderung dar.

Der Arbeitgeber verteidigte sich im Wesentlichen damit, dass einerseits betriebsbedingte Gründe für die Kündigung vorgelegen haben. Im Übrigen habe er die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers schlicht übersehen. Keinesfalls habe man ihn wegen dieser Eigenschaft benachteiligen wollen. Die Kündigung ohne Beteiligung des Integrationsamtes stelle deshalb keine verbotene Benachteiligung dar.

Auf den ersten Blick erscheinen die Argumente des Arbeitgebers plausibel: Weshalb sollte er eine offensichtlich unwirksame Kündigung aussprechen und sich damit der Gefahr eines Kündigungsschutzprozesses aussetzen, den er nicht gewinnen kann. Kein vernünftiger Arbeitgeber würde einem schwerbehinderten Arbeitnehmer eine Kündigung ohne Beteiligung des Integrationsamtes absichtlich aussprechen.

Kündigung ohne Zustimmung des Integrationsamtes - die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts

Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg vermochte den Argumenten des Arbeitgebers nicht zu folgen. Es bejahte einen Entschädigungsanspruch des Arbeitnehmers wegen des Ausspruchs der Kündigung ohne Beteiligung des Integrationsamtes. Dabei habe der Arbeitnehmer nicht beweisen müssen, dass der Arbeitgeber ihn habe benachteiligen wollte. Denn es sei ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, dass es auf ein schuldhaftes Verhalten oder gar eine Benachteiligungsabsicht nicht ankomme. Der Arbeitnehmer habe gemäß § 22 AGG grundsätzlich nur Indizien vorzutragen, die eine solche Benachteiligung vermuten lassen. Und nach Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist die unstreitige Kündigung ohne Beteiligung des Integrationsamtes ein solches Indiz. Ein solcher Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, begründe regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung.

Interessant sind auch die Ausführungen des Gerichts zur Höhe der Abfindung: Schon der Pflichtenverstoß des Arbeitgebers wiege schwer. Erschwerend käme hinzu, dass der Arbeitgeber auch, nachdem er auf Grund der Kündigungsschutzklage erkennen konnte, dass seine Kündigung ohne Beteiligung des Integrationsamtes unwirksam ist, noch viele Wochen zugewartet hat, ehe er die Kündigung zurückgenommen hat. Diese „monatelange Belastung“ sei mit einer Summe von immerhin vier Monatsgehältern zu entschädigen.

LArbG Baden-Württemberg Urteil vom 17. Mai 2021 - 10 Sa 49/20

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